>Nach außen hin gibt Bernd sich höflich, aufgeschlossen, fröhlich und humorvoll. Er diskutiert mit seinen Mitmenschen, geht auf seine Umgebung ein und erweckt den Anschein eines normalen Bürgers mit durchschnittlich 6-10 mal Sex pro Monat. Doch unter seiner Totenmaske ist Bernd ein Anderer. Er ist launisch, bipolar und melancholisch. Er hat seine lichten Momente, hauptsächlich dann, wenn er jemanden hat, der hört, was er sagt - nicht zu verwechseln mit dem, was er zu sagen hat. Es geht nur um die reine Aufnahme von mehr oder weniger artikulierten Lauten, die im Gehirn einen „Sinn“ erhalten. Im Prinzip braucht Bernd also nur einen Adressaten. So fühlt Bernd sich nicht allein. Er kann dann Witze reißen, die sein Gegenüber ekeln sollen, befremden, vielleicht auch belustigen, je nach Einstellung/Intelligenz/Verdorbenheit. Keiner versteht Bernds Witze. Daher kam Bernd zu dem Schluss, eine Insel der Intelligenz in einem schier endlosen Ozean von Pisse zu sein. Wie Magellan, denkt er. Magellan ließ einmal ein 700 Meter langes Seil in das Meer hinab, ohne auf Grund zu stoßen. So folgerte er, das Meer sei unendlich tief. Passt doch, denkt Bernd: Die Anderen sind so unendlich dumm wie mein Charakter tiefgründig.
Ich bin der einzige vernünftige Mensch auf diesem Planeten.<
Bernd saß immernoch auf der Wiese im Freibad. Er hatte sich ncht bewegt, seit man das Freibad aufgesucht hatte. Er hatte sich erklärt mit Krämpfen, gerade eingenommenem Essen, eben dem Üblichen. Um keinen Verdacht zu erwecken, belästigte er einen seiner Kommilitonen mit mehreren Theorien über die Gefahren des Schwimmens mit vollen Bauch, unter anderem dem erhöhten Kotabgangsrisiko und dem Produzieren von Schwimmbadpizzas bei zu großer Anstrengung. Bernds Kommilitonen waren diese Art von Gespräch gewöhnt und sahen großzügig darüber hinweg, da es sowieso niemanden interessierte.
Als sich die Sonne drohend über dem entfernten Hügelkamm zu senken begann, beschloss man, das Freibad zu verlassen und seiner Wege zu gehen. Bernd hatte heiß.
Er hasste die Abendsonne. 19 Uhr, Sonnenbrandgefahr. Leise verfluchte er diese Welt.
Bernd machte sich auf den Heimweg. Er besaß kein Auto, da er nicht reich genug war. Bernd war insgesamt eher als armselig zu bezeichnen, während er sich selbst lieber als ärmlich sah. Das Studium konnte er sich nur leisten, weil er vor einiger Zeit von seiner Großmutter einen gewissen Betrag geerbt hatte. Er dachte zu der Zeit viel darüber nach, wie er das Geld am besten einsetzen könne und kam zu dem Schluss, dass es wohl in ein Studium am besten investiert wäre. Es reichte gerade so. Bernd wohnte zum Glück zuhause in einem Speicherzimmer und nur wenige Kilometer von seiner Uni entfernt. Obwohl er Laufen hasste, ging er meist zu Fuß, denn er wollte nicht mit der S-Bahn fahren aus Angst vor Übergriffen; natürlich mag jetzt der geneigte Leser einwerfen, dass Laufen doch ebenso gefährlich sei und man alleine und zu Fuß noch leichtere Beute ist für jegliche Art von Halsdurchschneider, Meuchelmörder und Räuber – Bernd jedoch ging lieber zu Fuß, da er den freien Himmel, der heute in einem Rotschimmer glänzte, dem grauen oder anderfarbigen Dach eines Bahnwaggons vorzog. Das und seine undiagnostizierte klaustrophobische Neigung.
Bernd kam ohne Blessuren zu Hause an. Seine Mutter begrüßte ihn nicht, denn sie war nicht anwesend. Nach dem Tod ihres Mannes, der gleichzeitig Bernds Vater war, zog sie sich mehr und mehr zurück, während sie paradoxerweise immer länger arbeitete. Bernd wusste nicht, wie sie an ihrem Arbeitsplatz auf diese Weise bestehen konnte, aber er vermutete, dass sie sich nur hier so gab, wie sie sich gab. Bernds Mutter arbeitete in einer Fabrik für Sexspielzeug.
Bernd legte sich auf sein Bett und ging wie jeden Abend noch einmal alles durch, was er heute zu lernen hatte. Zumindest eine Sache, auf die er stolz war. Er hatte in seinem Leben noch nichts erreicht, die Reifeprüfung mittelmäßig bestanden und war ansonsten sehr träge und faul. Allerdings hatte er sich von Anfang an bemüht, hatte gelernt, regelrecht studiert und dies auch konsequent durchgehalten. Der Traum von einem guten Abschluss und einer Stelle im Ausland, die ihm im besten Fall auch noch gefiele hatte ihm das nötige Durchhaltevermögen gegeben. Die einzige Klopapierrolle in einem Pfad von Scheiße, dachte Bernd.
Nach dem Lernen reflektierte Bernd noch kurz über den heutigen Tag und legte sich schlafen, bereit für eine weitere unruhige Nacht voller Zweifel und unbegründeter Panik.
Bernd konnte in einer Woche an vielleicht zwei Tagen durchschlafen – wenn er denn Glück hatte. Oft lag er stundenlang einfach da, starrte an die Decke und war nicht imstande, auch nur annähernd sein Lid zu senken. Dann schreckte er wiederum auf, weil er doch kurz eingeschlafen sein musste, obwohl er schwören konnte, das Bild seiner weißen, schmucklosen, abgrundtief hässlichen Decke nicht einen Moment aus den Augen gelassen zu haben, wobei er sich immer sicherer wurde, dass die Decke versuchte, ihm Nachrichten zu übermitteln, während es manchmal vorkam, dass einfach Ameisen auf ihr krabbelten und fleuchten. Bernd wohnte in einem Haus mit einem sehr pedantischen Hausmeister und wusste, dass dieser jeder Ameise, die auch nur auf einen Meter an das Haus herankam, sofort und unwiderruflich, auf eine Art, die selbst einen KZ-Aufseher grausen ließe, umbrachte; Bernd hatte ihn schon einmal gerufen wegen der Ameisen an seiner Decke, erhielt dafür ein Rearrangement seiner Möbel, beinahe eine Vergiftung mit E605 und den Rat, bloß keine Essensreste herumliegen zu lassen. Der Hausmeister fand nicht eine Ameise oder auch nur Teile davon. Bernd glaubte, wahnsinnig werden zu müssen.